Europa als Gedächtnislandschaft

Mit der Europäischen Union ist eine transnationale Ordnung entstanden, welche die Entwicklung einer kollektiven "europäischen Identität" herausfordert. Da aber eine gemeinsame Währung und eine politische Verfassung die integrative Identitätsbildung der "Europäer" nicht ermöglichen kann, ergibt sich die Frage nach historischen Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für europäische Bürger das Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden Schicksals stiften. Europa ist in diesem Sinne eine "Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaft" Gemeinsame Klammer des "alten" und "neuen" Europa ist das kollektive Gedächtnis.

Dieses kollektive Gedächtnis ist seinem Wesen nach kulturell. Es entsteht auf der Basis fundierender Geschichten, die den Bürgern ihre "europäische Gegenwart" durch das Erlebnis einer gemeinsamen Vergangenheit, mit der sie sich identifizieren können, erfahrbar macht. Dabei kommt der Verräumlichung der Erinnerung eine besondere Rolle zu. Das Gedächtnis haftet an Orten. Aus diesem Grunde werden ausgewählte Orte mit symbolischer Bedeutung aufgeladen und zu Gedächtnisorten erhoben, um der Identitätsfindung als Anhaltspunkte zu dienen. Europa, das ein ganzes Netz solcher Gedächtnisorte umfasst, kann in diesem Sinne als eine "Gedächtnislandschaft" verstanden werden.

Die Konstrukteure des Europarats und der EU haben die identitätsstiftende Bedeutung von Gedächtnisorten erkannt, zumal die Pilgerfahrten des Mittelalters und die Reisekunst der Neuzeit bereits zu dieser "europäischen Identitätsbildung" beigetragen haben. Deshalb haben sie Strukturen und Systeme für kulturtouristische Programme geschaffen, um es Reisenden nicht nur zu ermöglichen, sich an Gedächtnisorten zu treffen, sondern an diesen Orten auch mit einem als gemeinsam erachteten kulturellen Erbe in Kontakt zu kommen. Indem man also ausgesuchte Orte und Wege dem touristischen Interesse erschließt, soll das Bewusstsein für eine gemeinsame europäische Kultur geweckt werden.

1987 wurde auf Vorschlag des Europarats der Pilgerpfad nach Santiago de Compostela als erste europäische Kulturstraße eingeweiht. Inzwischen zählen andere Routen dazu, wie etwa die Via Francigena, die Mozartstraße, die Straße des Martin von Tours und seit 2005 auch die VIA REGIA. Diese Routen rufen die Erinnerung an europäische Kultur, Völker und geistige Bewegungen wach, die im Tourismus wiederaufleben.

Im Europarat genießen Kulturstraßen einen besonderen Stellenwert. Die Affinität zwischen Raum und Gedächtnis wird hier nicht nur proklamiert, sondern vom Europarat durch die offizielle Anerkennung von Kulturstraßen auch faktisch umgesetzt.